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Yoga-Sūtra II/42 (Patañjali)

Auch hier spricht Patanjali die Früchte des Übens an: „unüberbietbares Glück“. Dies klingt auf den ersten Blick etwas überzogen. Wie kann „bloße“ Zufriedenheit zu „unüberbietbarem Glück“ führen? In der Übung erfahren wir aber, dass wir ganz bei uns sind, wenn wir mit etwas zufrieden sind. Die Wünsche und Ablehnungen (Kleshas) sind in sich zusammengefallen und bringen unseren Geist zur Ruhe, er wendet sich nach innen und nähert sich dem Selbst. Wenn wir dagegen unzufrieden sind, leben wir in einer inneren Spannung. Wir wollen etwas anderes als das, was wir haben. Dies führt zu einer Orientierung nach außen und bindet uns an das, was wir wünschen oder ablehnen. Mit den entsprechenden Folgen. Unüberbietbares Glück lässt sich nur in der Anbindung an das Selbst erfahren.

[Näheres sowie konkrete Übungen im Sūtra-Abend mit Dr. Christian Schmidt.]

Yoga-Sūtra II/41 (Patañjali)

Ferner [erlangen dieses Niyama-Übende] Frohsinn, Konzentrationsfähigkeit, Beherrschung der Sinne und die Schau des Selbst. Die hier genannten Wirkungen gleichen somit denen, die für die höheren Stufen des „Achtstufigen Pfades“ stehen. Auch dort geht es um die Beherrschung der Sinne (pratyahara), eine höhere Konzentration (dharana) und die Schau des Selbst (samadhi). Wir haben aber bereits bei den Yamas gesehen, dass bereits diese – bei vollkommener Verwirklichung – zu Samadhi  (und den mit ihnen verbundenen Siddhi-Fähigkeiten)  führen.  Die yogische Reinigung ist dazu da, das Licht hinter der „verrußten Scheibe“ unseres Geistes (citta) zu sehen, und dieses Licht ist die Erfahrung des Selbst.

Yoga-Sūtra II/40 (Patañjali)

Reinheit oder Reinlichkeit hat in allen Religionen eine hohe Bedeutung. Rituelle Waschungen, die Taufe oder das Fasten, das ebenfalls aus Gründen der Reinigung ausgeführt wird, kennen wir als religiöse Zeremonien aus allen Teilen der Welt und von den Hochkulturen der Geschichte. Das Gemeinsame daran ist, dass „Reinheit“ mit dem Göttlichen, mit Transformation, mit Spiritualität in Verbindung steht und stand, während „Unreinheit“ eine Bindung an das Irdische, an die körperlichen Funktionen (Stoffwechsel, Krankheit etc.) bedeutete. Das Yoga-Sutra gibt dabei auch diese Zielrichtung an: Durch Reinheit kommt Distanz zum Körper. In vielen Yoga-Texten wird es als „Hauptsünde“ betrachtet, dass sich der Mensch mit seinem Körper identifiziert und denkt, er sei der Körper. Im Yoga-Sutra ist es, als Unwissenheit (avidya), das zentrale Klesha und der Mutterboden für die anderen vier Kleshas (vgl. Sutra II/5). Reinheit umfasst auch bei dieser Sutra nicht nur die körperliche Ebene. Es geht auch um die geistige Ebene: Wie halte ich meinen Geist „rein“? Und es geht auch um die soziale Ebene. Wenn man dieses Niyama auf die Yamas spiegelt, könnte man auch sagen, dass die Beachtung der Yamas zu einem Verhalten führt, das man als „rein“ bezeichnen könnte.

Yoga-Sūtra II/39 (Patañjali)

Festigkeit im Nicht-am-Besitz-hängen (aparigraha) führt zur Erkenntnis über das Wie, Warum und Woher der Lebensvorgänge (janma). Zwei Worte im Sanskrit-Text sind in ihrer Bedeutung weit gefasst; dies muss bei der Übersetzung berücksichtigt werden. Es geht zum einen um den Begriff „aparigraha“. Er bedeutet Nicht-Ergreifen, Nicht-Besitzen. Wie sich aus den vielen anderen Yoga-Texten (etwa den Upanishaden) zu dem Thema ergibt, geht es nicht um Besitzlosigkeit, sondern darum, nicht am Besitz zu hängen. Denn wenn wir am Besitz hängen, sind wir an das Außen gefesselt. Zum anderen hat das Substantiv „janma“ die Bedeutung von Geburt, Entstehung, Natur, Wesen.

Yoga-Sūtra II/38 (Patañjali)

„Brahmacarya“ bedeutet dabei wörtlich: Ein Lebenswandel, der auf „Brahman“ (das Göttliche) bezogen ist. Hierzu gehört eine Enthaltsamkeit, zu der auch das Körperlich-sinnliche gehört. Das Resultat einer solchen Enthaltsamkeit ist „vīrya“, das sich vielleicht am besten mit heldenhafter Tapferkeit übersetzen lässt. Gemeint ist aber eine über das normale Menschliche hinausgehende Energie, die den spirituellen Weg beflügelt. Es ist das vierte Yama. Seine Stellung ist nach Ahimsa, Satya und Asteya – Ahimsa geht vor.

Yoga-Sūtra II/37 (Patañjali)

„Einem Yogaübenden, der im Nichtstehlen (asteya) fest gegründet ist, präsentieren sich alle Schätze.“ Nichtstehlen (asteya) hat eine weite Bedeutung. Es geht nicht nur um das Stehlen im landläufigen Sinne, d. h. von materiellen Gütern, die anderen gehören. Auch das Plagiieren, der Diebstahl von geistigem Eigentum, fällt unter dieses Yama, ebenso, wenn wir uns „mit fremden Federn schmücken“ und andere glauben machen, dass es unser Verdienst ist, obwohl anderen das Lob/die Anerkennung zusteht. Darüber hinaus ist das Yama auch dann verletzt, wenn sich jemand die „Taschen füllt“ mit Dingen, die anderen gehören, auch, wenn damit strafrechtlich kein Stehlen vorliegen würde. Das ist z. B. der Fall, wenn Kolonien ausgebeutet werden oder wir für unseren Lebensbedarf ungehemmt Dinge konsumieren, für die kein fairer Preis bezahlt wird.

Yoga-Sūtra II/36 (Patañjali)

„Bei einem Yoga-Übenden, der in Wahrhaftigkeit (satya) fest gegründet ist, entspricht die Frucht dem Handeln.“ Wir setzen unsere innere Reise und Selbstwahrnehmung in Bezug auf die Yamas fort und wenden uns nun dem Yama „Wahrhaftigkeit/Ehrlichkeit/Nichtlügen“ zu.

Yoga-Sūtra II/35 (Patañjali)

„In der Nähe eines Menschen, der im Nichtverletzen fest gegründet ist, wird jede Feindseligkeit aufgegeben.“ Nach der ausführlichen Beschäftigung mit der Übungstechnik von pratiprakṣa-bhāvana und der Veranschaulichung dieser in einem größeren Kontext (Vasanas vs. Samskaras, Keimspeicher, Asmita, Selbst/Samadhi) ist es für uns Yoga-Übende hilfreich, diese zentrale Übung für die Yamas/Niyamas weiterzuführen – dieses Mal auf das Yama Ahimsa bezogen.

Yoga-Sūtra II/34 (Patañjali)

Abträgliche Gedanken, wie Verletzenwollen, haben endloses Leid zur Folge – unerheblich, ob man die Tat selbst ausführt, ausführen lässt oder nur geschehen lässt oder ob ihr Habsucht, Zorn, Verblendung vorausgeht. Deshalb ist es notwendig pratiprakṣa-bhāvana anzuwenden – seien die abträglichen Gedanken schwach, mittel oder stark. Wenn wir uns nicht um die „negativen“ Gedanken kümmern und den „Geboten“ der Yamas folgen, können wir nicht glücklich sein, sondern bleiben im Leid verhaftet (auch wenn wir dies natürlich nicht durchgängig so wahrnehmen). Es macht keinen Unterschied, ob wir selbst Handelnder sind oder andere dazu bringt, entgegen der Yamas zu handeln (wir sie also anstiften) oder ob wir zuschauen, wie etwa Menschen durch andere verletzt werden und wir versuchen, nicht einzugreifen und dies zu verhindern. Den Yamas, hier ist Verletzenwollen genannt, können unterschiedliche „Trigger“ zugrunde liegen; Patanjali spricht hier ein paar an. Die negativen Gedanken können stark ausgeprägt sein. Wir sollten uns letztlich um alle kümmern, auch wenn es nicht übermächtige abträgliche Gedanken sind.

Yoga-Sūtra II/33 (Patañjali)

In der obigen Sūtra benennt Patañjali mit der Technik von „pratiprakṣa-bhāvana“ das yogische „Rezept“, um falsche, „abträgliche“ innere Tendenzen und Regungen zu besiegen. Er nimmt damit die Erkenntnisse der modernen Psychologie vorweg, dass der Versuch, nicht an das Negative zu denken, eigentlich ein „No go“ ist, da die Psyche keine Verneinungen kennt.

Yoga-Sūtra II/32 (Patañjali)

Diese Sūtra benennt – analog zu den Yamas – die fünf Niyamas. Anders als bei den Yamas, bei denen es um „Zügelung“ geht, sollen durch die Niyamas positive innere Energien (Gedanken, Gefühle, Bilder) gestärkt und zur Entfaltung gebracht werden. Schauen wir uns nur das Niyama „Zufriedenheit“ an: Es liegt auf der Hand, dass Unzufriedenheit nicht nur nicht glücklich macht, sondern auch eine geistige „Vertiefung“ behindert. Das „Gießen“ des Pflänzchens Zufriedenheit, um es wachsen, reifen und blühen zu lassen, führt nicht nur zu einem zufriedenen, glücklichen Leben, sondern erleichtert unsere Fähigkeit zu innerer Sammlung und hilft uns auf dem Weg in die Tiefe.

Yoga-Sūtra II/31 (Patañjali):

Der Sanskritausdruck für „Großen Vorsatz“ ist Mahā-vratam. Er hat folgende Bedeutungen: Vorsatz, Wille, Gewohnheit, Pflicht, Gelübde, Gebot. Gemeint ist, dass Yoga-Übende, welche die Yamas in ihrer umfassenden Bedeutung üben wollen, sich wirklich etwas ganz Großes vornehmen. Sie geloben, in allen Lebenslagen nicht mehr zu verletzen, wahrhaftig zu sein, niemand etwas wegzunehmen, enthaltsam zu leben und nicht am Besitz festzuhalten, so als hätte man ihn nicht. Patanjali macht in dieser Sutra auch deutlich, dass diese Haltung unabhängig von der Stellung des Übenden gilt – egal ob Herr oder Angestellter, Mann oder Frau, Brahmane oder Bauer. Die Beachtung der Yamas gilt auch unabhängig vom Ort und Situation, d. h. egal wo und in welchem Umfeld wir uns gerade befinden, und sie gilt immer und jederzeit. Also nicht nur z. B. in der Fastenzeit oder zu anderen Zeitausschnitten, die wir wählen, um zu üben.

Yoga-Sūtra II/30 (Patañjali):

Yama: Gewaltfreiheit (ahiṃsā), Wahrhaftigkeit (satya), Nichtstehlen (asteya), Enthaltsamkeit (brahmacarya), Nichtbesitzen (aparigrahā). Diese Sūtra listet die fünf Yamas lediglich auf. Mit der vorstehenden Übersetzung wurde versucht, jedes Yama mit einem deutschen Begriff zu übersetzen, um eine erste „Indikation“ zu erhalten. Damit bleibt man natürlich erst einmal nur an der Oberfläche. Wir werden die Differenziertheit der einzelnen Haltungen im weiteren Verlauf der Kursabende besprechen und die Wirkungen, die sich ergeben, wenn das jeweilige Yama ernsthaft und nachhaltig geübt wird, kennenlernen.

Yoga-Sūtra II/29 (Patañjali):

Patañjali umschreibt nun den Achtstufigen bzw. Achtgliedrigen Pfad: Die „Glieder“ des Yoga sind yama, niyama, āsana, prāṇāyāma, pratyāhāra, dhāraṇā, dhyāna, samādhi (spirituell-ethische Haltungen oder „Gebote“, spirituelle Tugenden, Körperhaltungen, Atemübungen zur Kontrolle des Prāṇa und Reinigung der Nāḍīs – „Energieadern“ -, Zurückziehen der Sinne, Konzentration und Sammlung auf einen Punkt, Meditation als Ergebnis hoher Konzentrationsfähigkeit, Unio mystica).

Yoga-Sūtra II/28 (Patañjali):

Patañjali beschreibt drei Dimensionen, die durch das Praktizieren von Yoga entwickelt werden:

1. Geist und Körper werden reiner; unreines Denken und „Schlacken“ bzw. Verunreinigungen im Körper werden abgebaut.

2. Es leuchtet immer mehr geistiges Wissen und spirituelle Erkenntnis auf; die Welt wird anders wahr genommen. Patanjali verwendet für diese Dimension die Worte  „jñāna“, Wissen, und „dīpir“, was so viel bedeutet wie Flamme, Glanz, Anmut.

3. Nun erst wird die höchste Form von Viveka möglich, nämlich in Form einer Schau, in welcher der wahre Unterschied – zwischen dem SELBST und allem anderen – gesehen wird. Dies ist keine intellektuelle Leistung oder geistiges Reflektieren, sondern erfolgt unmittelbar aus der Erfahrung von Samadhi.

Yoga-Sūtra II/27 (Patañjali):

Patanjali erklärt nicht, was er unter einem „siebenfältigen“ Bewusstsein versteht. Teilweise wird in den Kommentaren statt siebenfältig (saptadha) von siebenstufig gesprochen, und es werden dann sieben Stufen wie folgt differenziert: Körper – Sinne – Prana – Gefühle/innere Bilder – Intellekt/kognitives Bewusstsein – reines Bewusstsein – Selbst. Es geht nicht um „likes“ und „dislikes“, diese Unterscheidung gehört in die Kategorie „Kleshas“ und führt zu Bindung, Verstrickung und damit letztlich Leid i.S. des Yoga-Sutra. Das, was aufgegeben werden muss, sind unsere „klishta“-Tendenzen, also das, was zu Leid führt.

Yoga-Sūtra II/26 (Patañjali):

Unterscheidende Erkenntnis oder Wahrnehmung des Unterschieds ist ein sehr wichtiger, um  nicht zu sagen wesentlicher Bestandteil des spirituellen Prozesses. In unserer stark hedonistisch geprägten Gesellschaft, die den Bürger als Konsumenten begreift (und dieser sich als solcher begreifen lässt), ist die unterscheidende Erkenntnis stark auf „gefällt mir“ oder „gefällt mir nicht“ gerichtet. Wir unterscheiden, wozu habe ich Lust und wozu habe ich keine Lust. Mit dieser Lust-Unlust-Unterscheidung sind wir mitten im unguten Spannungsfeld der Kleshas, nämlich im Wünsche-Ablehnungs-Modus, und damit in dem, was schließlich zu Leid und Enttäuschung führt. Denn keine Lust währt ewig! Und die Schatten, die sich aufbauen, weil wir dem Unangenehmen (aber Erforderlichen) aus dem Weg gehen, erzeugen Angst und Unfreiheit. Gestärkt wird unser Ego und unsere Abhängigkeit vom Außen, das Selbst, die Verbindung mit ihm und die Hingabe an das Sein treten zurück.

Yoga-Sūtra II/25 (Patañjali):

Kurz vor dem achtstufigen Pfad (aṣṭāṅga-yoga), der mit Sūtra II/29 beginnt, macht Patañjali noch einmal einen entscheidenden Punkt: Nicht Samadhi, sondern erst der Zustand von Kaivalya führt zur endgültigen Befreiung. Erst dann geht der menschliche Geist (citta) in dem Großen Ganzen (Selbst) wirklich und auf Dauer auf. Das Selbst wird in dieser Sūtra, wie schon in vorangegangenen Sūtren, als Seher oder Beobachter bezeichnet. Je mehr wir uns mit dem Selbst verbinden und immer öfter und länger in der Haltung des (handelnden) Beobachters verweilen können, umso mehr werden uns die Wellen des Lebens nicht mehr „nass“ machen. Wir sind mehr und mehr in der Lage, „auf“ die Situationen zu blicken als „in“ ihnen verstrickt zu sein.

Yoga-Sūtra II/24 (Patañjali):

Die „Mutter“ aller Kleśas (d. h. Leidbringer) ist die Unwissenheit; sie liegt den anderen vier Kleśas zugrunde und ist gleichsam ihr Mutterboden. Unwissenheit ist die Unfähigkeit, das Selbst wahrzunehmen bzw. in ihm zu verweilen. Wir sind im Zustand der Unwissenheit zu sehr mit der Welt verstrickt und lassen uns ablenken.

Um zu erwachen, sitze ruhig da

und lass Dir Atemzug für Atemzug

den Geist klären und das Herz öffnen:

Dieser dem Buddha zugeschriebene Satz beinhaltet für mich alles, was ich im Pranayama-Kurs vermitteln möchte:

„Um zu erwachen“ – das ist das, worauf wir hinarbeiten, der Grund, warum wir üben: Erkennen, was „menschengemacht“ ist – und was ewig. Was Wahrheit ist – und was Illusion.

„sitze ruhig da“ – das bedeutet: Die citta vrittis sind verschwunden – zumindest beruhigt – sodass sie nicht stören; einen nicht forttragen.

Und wir erleben die Stille. Die Stille als Kraftquelle.

Wenn wir „ruhig dasitzen“, dann sind wir mit dieser Kraftquelle verbunden; wir sind „ruhig“ und wir sind „da“.

„und lass Dir Atemzug für Atemzug“ – durch den Fokus auf den Atem gelingt das Sammeln auf einen Punkt: Atemzug für Atemzug bleibe ich beim Atem: Ich atme ein. Ich atme aus.

Atem ist Leben. Mit der Beobachtung des Atems haben wir Zugang zum SEIN.

„den Geist klären“ – mit dem Fokus auf den Atem wird der Geist geklärt – Gedanken und Gefühle, in die wir uns sonst „verwickeln“, wird die Nahrung entzogen und es ergibt sich sozusagen von selbst, dass wir Zugang zur Wahrheit bekommen.

„und das Herz öffnen“ – wenn die Klärung des Geistes glückt, wenn die Geistesschulung Wirkung zeigt, dann öffnet sich das Herz und wird weit. Das Herz als Ort der göttlichen Kraft, des universellen Bewusstseins, des reinen SEINs.

[Näheres sowie konkrete Übungen im Atem-Kurs (prāṇāyāma) mit Günter Schumacher.]